02 Oktober 2021

Warte bis du in die Schule kommst

Als ich in die Schule kommen sollte, hatte jeder Erwachsene hierzu eine Meinung. Dieses wissende Nicken und die Lacher, wenn ich sagte, dass ich mich auf die Schule freuen würde, weil ich Lesen und Schreiben lernen würde „Die Freude wird dem Kind noch vergehen“. Da beschloss ich, dass es vielleicht doch besser wäre, mich nicht zu freuen. Also antwortete ich, dass ich mich nicht freuen würde auf die Schule zu gehen. Das fanden die Erwachsenen auch lustig.

Letztendlich war die Frage ob ich mich freue oder nicht nur die Einleitung für die Veteranengeschichten der Erwachsene. Sie erzählten von Streichen, und was passierte wenn sie erwischt wurden „mit dem Rohrstock haben sie mich geschlagen“, „mit dem Lineal auf die Fingerkuppen,“„wir mussten in der Ecke stehen, wenn wir nicht aufgepasst haben.“ Sie sprachen von Nachsitzen und Schummeln, Freundschaften und Abenteuern, die nach der Schule im Wald auf sie warteten. Kriegsgeschichten und außerdem konnten sie lesen und schreiben und Mathe und Sachkunde.

Da man mir versicherte, dass körperliche Strafen mittlerweile verboten seien, freute ich mich auf die Schule wegen der Streiche und der Abenteuer im Wald mit den neuen Freunden. In meiner Schule gab es keinen Wald aber es gab Anke Mahler. Anke war wie Pipi Langstrumpf ohne Affen und ohne Pferd. Aber sie hatte einen Papa der Polizist war - ein Beruf der für sechsjährige ziemlich nah an Gott kommt. Anke spielte nicht mit Puppen. Anke war der Boss der Jungs und Anke war eine Schlägerin, was sie wohl zum Boss der Jungs gemacht hatte. Ich vermute sie hat am ersten Schultag jeden Jungen einmal niedergerungen und auf dem Spielplatz Sand fressen lassen und zack war sie der Boss und hatte eine Bande.

In den Pausen ging Anke voran und ihre Honks wie eine Speerspitze hinter ihr her,über den Schulhof. Jedes Kind, dass wegrannte, wurde verfolgt, in den Schwitzkasten genommen und niedergetackelt.  Den Schwitzkasten und die Niedertackelei übernahm die unglaubliche Anke alleine während die Jungs im Halbkreis standen und staunten.  Wenn Anke ihr Opfer losgelassen hatte und man versuchte wieder aufzustehen, stürzte sich Patrick (sie wollten übrigens mal heiraten) also Patrick stürzte sich auf uns und rieb unser Gesicht noch ein bisschen über den Boden. Zum Abschluss drückte er immer zweimal sein komplettes Gewicht auf unseren Rücken - das war sein Markenzeichen. Dann erhob er sich und ging lässig hinter Anke und der Bande her.

Keiner von uns wehrte sich. Wir rotteten uns nicht als Mädchengang zusammen – sowas gab es nicht. Wir petzten auch nicht. Niemand mag Petzen. Außerdem war Ankes Vater Polizist und wenn wir sie verpfeifen würden, würde er uns oder noch schlimmer unsere Eltern einsperren, dachte ich.  Anke hatte die Macht und ich zitterte vor Anke. Ich war nicht cool genug für ihre Bande und außerdem war ich ein Mädchen und die würdigte sie mit keinem Blick außer wenn sie uns niedertackeln konnte. Anke durfte nämlich alle verhauen Jungs – weil sie stärker war und Mädchen, weil sie auch eines war und dann ist es egal, dass man keine Schwächeren schlagen darf. Das wäre vermutlich auch so weitergegangen es passierten zwei Dinge.

Erstens: Ich lernte die Bedeutung des sekundären Kranheitsgewinns kennen. „Dieser beinhaltet die äußeren Vorteile, die der Patient durch sein Kranksein ziehen kann. So wird ihm durch die Erkrankung häufig mehr Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme durch seine Umwelt zuteil.“         (https://eref.thieme.de/ebooks/2446948#/ebook_2446948_SL91355023)

Ich hatte am Wochenende meinen Eltern meinen neusten Trick gezeigt. Ich konnte, mich mit Händen und Füßen abstützend, den Türrahmen hochgehen. Als ich den Trick zeigte, stütze ich mich aber nicht, wie geübt am Türrahmen ab, sondern an einer Glasscheibe, die durch den Druck zersplitterte und mir die Muskeln und Sehnen des linken kleinen Fingers bis auf den Knochen durchtrennte. Nachdem ich wild schreiend, mit der blutigen Hand wedelnd ein kleines blutiges Jackson Pollack Kunstwerk auf den Tapeten anbrachte, fuhren wir ins Krankenhaus wo ich weiter schrie, diesmal ohne mit der Hand zu wedeln. Meine Mutter hatte die blutige Hand mit einem Küchenhandtuche umwickelt und hielt alles zusammen. Dann kam Dr. Lang – wir kannten uns schon von anderen Verletzungen – und verpasste mir die übliche eine Äthernarkose (ja die gab es damals noch). Als ich aufwachte hatte ich einen immensen Verband um den Finger und konnte die Hand kaum bewegen.

Dann kam der Montag. Schule. Für Kinder sind Verbände wie Trophäen und mein Verband war spektakulär. Und meine Geschichte auch – überall Blut und eine Narkose. Das Heulen und Wedeln lies ich weg. Ich dachte, dass ich es nun geschafft hätte eine von denen zu sein, die Anke Mahler und die Gang in Ruhe lassen würden.

Denkste Puppe. Die Pause kam, Anke kam mit hochgezogenen Schultern und füng Jungs im Gefolge auf mich zu. Ich rannte, Anke rannte hinter mir her und kesselte mich an der großen Mülltonne ein. Aber diesmal wollte ich nicht aufgeben, ich war eine Heldin. Ich hatte mich bei einem überaus krassen Trick schwer verletzt. Ich sag nur Narkose und Nähen. Diesmal würde ich nicht auf dem Boden liegen. Trotzig hob ich die linke Hand. Der ehemals weiße jetzt schon etwas graugespielte Verband stand zwischen uns, zwischen mir und Anke Mahlers Ringerkünsten. Mutig sah ich ihr ins Gesicht und sagte:“ Du willst doch keine Behinderten schlagen.“

Sie stockte, lies meine Schulten los und sagte:“ Stimmt,“ drehte sich um und verzog sich, samt Bande. Anke Mahler hat mich seitdem nie wieder gejagt, denn bevor mein Verband ab war geschah das zweite: Anke Mahler ging auf eine andere Schule.


1 Kommentar:

Toob hat gesagt…

Ach, lange ist es her.. Ich weiss noch, wie wir mal bei den Nachbarn im Garten die Johannisbeeren stibizt haben.. Du warst eine coole Nachbarin und aus heutiger Sicht bin ich schon etwas wehmütig, dass ihr irgendwann weggezogen seid..
Liebe Grüße, Toob